Die Elster – wie Yin und Yang

Am letzten Abend meines Krankenhausaufenthaltes sah ich Anfang März im Fernsehen eine Dokumentation über den Dichter und Minnesänger Wolfram von Eschenbach (ca.1160 bis 1220). Immer wieder flog eine Elster durch die nachgestellten Szenen.

Wieder zu Hause angekommen, entdeckte ich, dass zum ersten Mal ein Elsternpärchen direkt in dem Baum vor meiner Balkontür ein Nest baute. Wenn da mal nicht das „Tao des Zufall“ (so der Titel eines Buches von Victor Mansfield über Synchronizität) eine Rolle spielte…..

In der Sendung wurde über Wolfram von Echenbachs Elsterngleichnis berichtet. Er sah den Menschen nicht nur als rein gut oder völlig schlecht /böse an, sondern hatte ein tiefes Verständnis dafür, dass wir immer beide Anteile haben. Da er das Gute mit der Farbe „weiß“ assoziierte und das Böse mit „schwarz“, war für ihn die Elster ein Symbol der Beschaffenheit der menschlichen Seele. 

In der Parzival Sage, die der Dichter erzählte, ist viel von dieser Doppelnatur die Rede. Der Protagonist der Erzählung wird nach vielen Irrungen und Wirrungen einen Reifungsprozess durchmachen, der ihn verstehen lässt, dass zutiefst menschliche Gefühle und eine geläuterte, edle Haltung sich nicht ausschließen. Er ist auf der Suche nach dem Heiligen Gral, der sich allerdings nur dem durch Schicksalsfügung Auserwähltem zeigt. Als er das erste Mal die Gelegenheit bekommt, in die Gralsburg zu gelangen, versteht er nicht welche Aufgabe er gegenüber dem alten Gralskönig erfüllen soll. So löst sich die Burg vor seinen Augen auf und viele Jahre der Wanderung, der Abenteuer und Umwege liegen vor ihm.

Erst nachdem er einige Zeit bei einem Eremiten verbracht hat, lernt er Demut und Annahme des Schicksals. Ein zweites Mal zeigt sich ihm die Gralsburg und nun ist er in der Lage dem kranken König die erlösende Frage zu stellen: „Was quält dich, mein König?“ Durch die von Mitgefühl, Anteilnahme und Offenheit getragene Frage kann dieser gesunden und ihm, Parzival, den Gral als neuem König anvertrauen.

Ich habe bei Wolframs Elsterngleichnis an unser Yin-Yang Symbol gedacht, das auf so schöne Weise die Polaritäten unseres Daseins vereint. Auch wenn wir hier nicht die schwarze Seite mit „Böse“ assoziieren, so kennen wir doch alle heilsame und unheilsame Gefühle. Wie oft sind wir achtlos, ungeduldig, gereizt, neidisch wo wir gerne liebevoll, ruhig, annehmend wären…..

Aber jede Eigenschaft hat den Keim des Gegenteils in sich und kann sich wandeln. Diese Wandlung geschieht aber nicht durch das vielbeschworene „Loslassen“ – wie sollte man denn seinen, oft auch berechtigten, Ärger, Wut oder seine Trauer loslassen?

Wenn wir uns diesen Gefühlen stellen, sie anschauen können, sie „Da-Sein-Lassen“ können, dann haben wir die Chance, sie zu integrieren anstatt sie nur zu verdrängen. Alleine dadurch entsteht Wandlung und wir werden „ganz“ – mit all unseren auch widersprüchlichen Facetten.

Nachdem ich vor etlichen Wochen meine existenzielle Sorge und Angst vor der bevorstehenden Operation „Da-Sein lassen“ konnte, hat sich nun ein Gefühl der Freude eingestellt. Es ist herrlich, mehr Zeit als sonst zur freien Verfügung zu haben! Ende April ist die Abschlussuntersuchung in Kiel und auch das ab und an nagende Gefühl der Ungewissheit über den Ausgang darf da sein!

Die Elstern haben ihr Nest inzwischen vergrößert, es hat ein Dach und zwei Ein-bzw. Ausgänge und es macht Spaß, das gerade begonnene Brutgeschäft zu beobachten! Elstern gehören zu den intelligentesten Singvögeln und können sich, wie nur einige Affenarten, selber im Spiegel erkennen. Sie leben in lebenslanger Monogamie und habe ein ausgeprägtes Sozialverhalten.

In China gelten Elstern als Glücksbringer weil sie im Mythos „Die Weberin und der Kuhhirte“ am siebten Tag des siebten Mondmonats eine Brücke von der Erde in den Himmel bildeten und so den getrennten Liebenden ein Zusammenkommen ermöglichten. Im Qigong heißt die Stellung der Zungenspitze am Gaumen „Elsternbrücke“ und verbindet wie zwei Liebende den großen Yang Meridian der Körperrückseite (Dumai) mit dem großen Yin Meridian der Körpervorderseite (Renmai) .  

Wenn unsere Gedanken mal wieder zu unruhig werden, können wir uns einen Augenblick in eine gute, aufgerichtete Qigong Haltung setzen, die Hände entspannt und offen auf den Oberschenkeln. Nun brauchen wir nichts weiter tun, als die Zungenspitze an den Gaumen (die Elsternbrücke bilden) zu legen und für einige Atemzüge ruhig ein – und auszuatmen und uns innerlich dabei zuzulächeln. Wenn die Zunge sich wieder lösen möchte, lassen wir das zu und verweilen noch einen Augenblick in einem Gefühl von Ganzheit.

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