In den vergangenen Wochen habe ich in verschiedenen Kursen über den Akupunkturpunkt „Yintang“ gesprochen. Dieser mit „Siegelhalle“ oder „Stempelhalle“ übersetzte Ort liegt genau zwischen den Augenbrauen. Viele Kulturen und spirituelle Methoden messen ihm besondere Bedeutung bei. Er wird auch „Dritte Auge“ genannt oder im chinesisch/tibetischen Raum „Himmelsauge – Tianmu“. Seine Lage zwischen dem rechten und dem linken Auge, im übertragenen Sinne zwischen Yin und Yang, Gefühl und Verstand weist auf die Mittlerfunktion zwischen diesen Polaritäten hin.
Häufig betrachten wir etwas einseitig, entweder von der Gefühls- oder Verstandesebene her und aus dieser „Einäugigkeit“ entstehen viele Konflikte und Missverständnisse, wie wir es im abgelaufenen Jahr nur zu oft beobachten konnten.
Das „Siegel“ oder der „Stempel“, die hier ihren Abdruck hinterlassen, bezieht sich auf „Shen“ (Bewusstsein, Geist, Seele). Dieser Abdruck entsteht aus der Verbindung beider Pole. So entsteht aus der Integration von Ratio und Emotion etwas Drittes, nicht unbedingt etwas Übernatürliches sondern aus dem Sehen verschiedener Aspekte wird nun wahre Ein-Sicht – eine neue Dimension wird sichtbar!
Diese Integration und Durchdringung der Pole Yin und Yang wird in der Sprache der daoistischen Alchemie das „Bewahren des Einen“ genannt, bzw. das „Eins-Werden mit dem Dao“.
Nicht von ungefähr liegt der Ort Yintang in der Mitte zwischen beiden Augen. Wenn ich in der Mitte stehe, kann ich in alle Richtungen schauen und offen und leer alle Einflüsse aufnehmen und umwandeln. So ist das Wort „Mitte“ im daoistischen Kontext keine geometrische Mitte sondern eher ein Feld der Ruhe, das Unbewegte im ständigen Strömen der 10.000 Dinge – eben auch „das Eine“.
Oft erscheint es einfacher und sicherer sich einer bestimmten Richtung zuzuordnen, nur eine Seite einer Begebenheit zu betrachten, weil wir dann unseren liebgewonnenen Standpunkt nicht verlassen müssen. In seinem 1951 erschienen Buch „Weisheit des ungesicherten Lebens“ schreibt der Religionsphilosoph Alan W. Watts:
„Wenn ich sicher zu sein wünsche, d.h. beschützt vor dem Fluss des Lebens, so wünsche ich, getrennt vom Leben zu sein.“
Unter diesem Aspekt lohnt es sich immer wieder, das eigene Sicherheitsbedürfnis zu überdenken, neue Ein-Sichten zu gewinnen und mutig in den Fluss des Lebens zu steigen.
In diesem Sinne wünsche ich euch allen ein mit dem Leben tief verbundenes, glückliches und gesundes
Neues Jahr 2017!
Dreißig Speichen umgeben eine Nabe,
doch erst durch das Nichts in der Mitte
kann man sie verwenden.
Man formt Ton zu einem Gefäß,
doch erst durch das Nichts im Inneren
kann man es benutzen.
Man macht Fenster und Türen für das Haus,
doch erst durch ihr Nichts in den Öffnungen erhält das Haus seinen Sinn.
Darum: Das Seiende zeigt seinen Nutzen im Gebrauch
erst durch das Nicht-Seiende
Laotse, Daodejing 11